Innovationsbereiche und Einrichtungen
Viele Studien weisen auf die hohe psychische Beanspruchung von Lehrkräften hin (Urbutt, 2001). Ein Hauptbelastungsfaktor sind aus Lehrersicht sogenannte „schwierige“ Schüler*innen (DAK Team Prävention und Gesundheitsberatung, 2004), wobei die Prävalenzrate von Kindern und Jugendlichen mit Gefühls- und Verhaltensstörungen in Deutschland bei 10-20% liegt (Beelmannn & Raabe, 2007; Ihle et al., 2000).
Im Projektbereich Innovationsbereiche und Einrichtungen werden Beratungsformate in Bezug auf speziell gefährdete Kinder in akuten und latenten Gefährdungssituationen sowie Beratungs- und Unterstützungsangebote hinsichtlich kritischer und prekärer Begebenheiten in inklusionsorientierten, heterogenen Unterrichtssituationen erarbeitet (2016-2019) und bereits bestehende Konzepte evaluiert (2019-2023).
1. Förderphase (Januar 2016 – Juli 2019)
Im Teilprojekt „Innovationsbereiche und Einrichtungen“ wurde ein Beratungskonzept entworfen, welches Lehrkräfte im Umgang mit verhaltensauffälligen Schüler*innen unterstützen und professionalisieren soll. In der Pilotphase lag der Fokus auf Schulwerkstätten in Vorpommern. In der zweiten Phase wurde das Konzept auf Grundschulen ausgeweitet.
Der erste Baustein des Beratungskonzepts ist eine Fortbildung anhand des Fördermaterials „Schwierige Schüler – 84 Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten und sonderpädagogischem Förderbedarf“ (Hartke, Blumenthal, Carnein & Vrban, 2018), der zweite sieht individuelle kooperative Beratungssitzungen (Mutzeck, 2008) zu problematischen Schulsituationen vor. 50 Lehrkräfte setzten an verschiedenen Grundschulen in Vorpommern die Konzeption um.
Grundschule Horst
Grundschule Lütt Matten Wusterhusen
Grundschule Greif
Karl-Krull Grundschule Greifswald
Montessori-Grundschule Greifswald
Juri-Gagarin Grundschule Stralsund
Lambert-Steinwich Grundschule Stralsund
01/16 - 04/18 Pilotierstudie
05/18 - 08/18 Schulaquise
09/18 - 19/18 Prätest und Grundrate
10/18 - 01/19 Interventionsrate
12/18 - 01/19 kooperative Beratungen
02/19 - 06/19 Posttest, Abschlussveranstaltung, Follow-Up-Test
- Stippl, L., & Reiß, M. (2019). Ein Beratungskonzept für Grundschullehrkräfte im Umgang mit nichtregelkonformen Verhalten - eine Interventionsstudie. Posterpräsentation auf der Frühjahrstagung der Arbeitsgruppe für empirische sonderpädagogische Forschung (AESF). Freiburg (CH).
- Stippl, L. (2018). Ein Beratungskonzept für Grund- schullehrkräfte im Umgang mit nichtregelkonformen Verhalten - eine Interventionsstudie. AESF Herbsttagung, Wuppertal (Germany).
- Rühlow, D., Kuty, M. & Mahlau, K. (2018). Handlungsmöglichkeiten für den inklusiven Unterricht. 3. Verbundtagung, Rostock (Germany).
- Carlsson, Brian (2017). Systemische Gesprächsführung – Kann sie einen positiven Beitrag im Kontext schwieriger Elterngespräche leisten? In O. Carnein, J. Langer, & A. Methner (Hrsg.). Gelingensbedingungen schulischer Beratung (S. 66-74). Rostock: Verlag Beratung in der Schule.
- Bruhn, U., Carlsson, B., Hechler, S., & Michels, K. (2017). InFoLaB und InklusiV - Forschen und Lernen ininklusiven Räumen. Symposium Exklusiv INKLUSIV: Inklusion kann gelingen. Forschungsergebnisse und Beispiele guter Praxis, Neubrandenburg.
- Carlsson, B. (2017). Systemische Gesprächsführung – Kann sie einen positiven Beitrag im Kontext schwieriger Elterngespräche leisten?. Fachtagung „Gelingensbedingungen von Beratung im Kontext Schule" (ISER), Rostock.
- Carlsson, B. & Mahlau, K. (2017). Beratungskonzept zur Professionalisierung von Schulwerkstätten. 2. Verbundtagung, Rostock (Germany).
Beelmann, A. & Raabe, T. (2007). Dissoziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Hogrefe.
Chafouleas, S. M., Christ, T. J., Riley-Tillman T. C., Briesch A. M., & Chanese, J. A. M. (2007). Generalizability and dependability of direct behavior ratings to assess social behavior of preschoolers. School Psychology Review, 36(1), 63–79.
Hartke, B. & Blumental, Y., Carnein, O., & Vrban, R. (2018). Schwierige Schüler – 84 Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten und sonderpädagogischem Förderbedarf. Persen.
Ihle, W., Esser, G., Schmidt, M. & Blanz, B. (2000). Prävalenz, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede psychischer Störungen von Grundschul – bis ins frühe Erwachsenenalter. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 29, S. 263 – 275.
Mutzeck, W. (2008). Kooperative Beratung. Grundlagen, Methoden, Training, Effektivität (6., überarbeitete und erweiterte Aufl.). Beltz.
Urbutt, A. (2001). Belastungen im Lehrerberuf und Aspekte der Bewältigung. GRIN.
2. Förderphase (Juli 2019 – Dezember 2023)
Im Zuge der Inklusionsstrategie des Landes Mecklenburg-Vorpommerns sollen in allen Schulamtsbereichen Schulen mit besonderen Förderangeboten für Kinder mit starken Verhaltensauffälligkeiten vorgehalten werden. Ein Förderangebot ist das sogenannte Familienklassenzimmer.
Das Konzept
Das Familienklassenzimmer ist ein temporäres Unterrichtsangebot für Schülerinnen und Schüler mit präventivem oder sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung (esE). Auf der Grundlage eines systemischen Zuganges arbeiten Lehrkräfte, Personal mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung (PmsA), Eltern und Sozialpädagog*innen gemeinsam in spezifischen Lern- und Fördersituationen zusammen. Bis zu acht Kinder lernen an einem Tag in der Woche mit ihren Eltern gemeinsam unter Anleitung von Pädagog*innen und Therapeut*innen. Durch Rollentausch werden Eltern selbst zu Beratern. Die Kinder bekommen mehr Aufmerksamkeit. Eltern lernen die Situation an der Schule kennen, während die Lehrkräfte die Familien besser verstehen. Wie lange Kinder und Eltern das Familienklassenzimmer besuchen, hängt davon ab, wie schnell die vereinbarten Ziele erreicht werden.
Umsetzung in Mecklenburg-Vorpommern
Das Institut für Qualitätsentwicklung M-V bietet mit der Fortbildung „Systemische Kompetenz für das Familienklassenzimmer“ Lehrkräften und PmsA aller Schularten die Möglichkeit, systemische Beratungskompetenzen zu erwerben. In der Fortbildung werden Grundlagen systemischen Denkens und Handelns vermittelt. Zielstellung der Fortbildung ist, die Teilnehmer*innen zu befähigen, auf der Grundlage systemischer Arbeitsweisen Gespräche und Situationen mit Einzelpersonen, Familien und größeren Systemen sicher zu gestalten. Nach Abschluss der Zusatzqualifikation sind die Teilnehmer*innen in der Lage, in Zusammenarbeit mit der Schulleitung, sozialpädagogischer Unterstützung und den Lehrkräften der Schule ein Familienklassenzimmer an der eigenen Schule aufzubauen.
Historie
Das Konzept des Familienklassenzimmers basiert auf dem Ansatz der Multi-Familientherapie, die in den 1950er Jahren in den USA erstmals praktiziert wurde. Damals entdeckten Therapeuten, dass es effektiver sein kann, mehrere Familien in einer Gruppe zu behandeln, als jeweils nur eine Familie (Laqueur et al., 1964). Die dadurch möglich werdenden intra- und interfamiliären Interaktionen führen zu Perspektivwechseln, die wiederum Veränderungen hervorrufen können – ein therapeutisches Potenzial, das in einer unidirektionalen Situation (Therapeut – Familie) nur schwer zustande kommen würde (Asen et al., 2002). Systemische Therapie versucht dabei nicht primär, die Interaktion zwischen Therapeut und Kind zu verändern oder Symptome zu beseitigen, sondern zielt vorrangig darauf, Veränderungen in der Familie als unmittelbares primäres soziales Umfeld anzustoßen (Asen & Scholz, 2008).
Die Multi-Familientherapie ist seitdem in vielen Ländern angewandt und auf unterschiedliche therapeutische Settings ausgeweitet worden. Für den Einsatz der Multi-Familientherapie im Schulkontext hat sich das „Marlborough Family Service Education Centre“ in London einen Namen gemacht. Kinder mit schweren Lern- und Verhaltensstörungen kommen zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil viermal in der Woche in die halbtags arbeitende tagesklinische Einrichtung, um an ihren schulischen Aufgaben, aber auch Verhaltens- und Interaktionsweisen zu arbeiten. Das Ziel ist der Abbau nicht-sozialen Verhaltens und die Verbesserung der schulischen Leistung (Asen & Scholz, 2008). Doch nicht alle Kinder mit Verhaltensproblemen brauchen diese intensive Form der Familien-Schul-Intervention – so entstand das „Familienklassenzimmer“ mit Multi-Familiengruppenarbeit in Normalschulen.
Mehr Informationen zum Familienklassenzimmer:
https://www.lehrer-in-mv.de/klasse/konfliktloesung/
Forschungsfragen:
Wie wirkt die systemische Intervention Familienklassenzimmer?
- Welche Auswirkung auf das Sozial-, Regel- und Arbeitsverhalten, das prosoziale Verhalten sowie auf die allgemeine Schuleinstellung der Schüler*innen hat die Intervention?
- Kann durch die Intervention störendes Schüler*innenverhalten reduziert werden?
- Welche Auswirkung hat die Intervention auf die psychische Gesundheit der Eltern?
- Welche Auswirkung auf die Eltern-Kind-Beziehung hat die Konzeption?
- Welche weiteren Wirkmechanismen hat das Familienklassenzimmer?
- Wie nachhaltig wirkt die Intervention?
Integrierte Gesamtschule Erwin-Fischer, Greifswald
Erich-Weinert-Grundschule, Greifswald
Grundschule Greif, Greifswald
Karl-Krull Grundschule, Steinhagen
07/2019 – 03/2020 Konzeptionsphase
03/2020 – 06/2020 Schulakquise
08/2020 – 06/2021 Pilotstudie
08/2021 – 06/2022 Hauptstudie
Asen, E., Dawson, N., & McHugh, B. (2002). Multiple-Family Therapy: The Malborough Model and its Wider Applications. Routledge.
Asen, E., & Scholz, M. (2008). Multi-Familientherapie in unterschiedlichen Kontexten. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie, 57, 326-380.
Beelmann, A., & Raabe, T. (2007). Dissoziales Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Hogrefe.
Chafouleas, S. M., Christ, T. J., Riley-Tillman T. C., Briesch A. M., & Chanese, J. A. M. (2007). Generalizability and dependability of direct behavior ratings to assess social behavior of preschoolers. School Psychology Review, 36(1), 63-79.
Ihle, W., Esser, G., Schmidt, M., & Blanz, B. (2000). Prävalenz, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede psychischer Störungen von Grundschul – bis ins frühe Erwachsenenalter. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 29, S. 263 – 275.
Laqueur, H.P., La Burt, H.A., & Morong, E. (1964). Multiple family therapy: further developments. International Journal Society Psychiatry, 10, 69–80.
Morris, E., Le Huray, C., Skagerberg, E., Gomes, R., & Ninteman, A. (2013). Families changing families: The protective function of multi-family therapy for children in education. Clinical Child Psychology and Psychatry, 19, 617-632.
Urbutt, A. (2001). Belastungen im Lehrerberuf und Aspekte der Bewältigung. GRIN.
Kontakt
Prof. Dr. Kathrin Mahlau
Institut für Erziehungswissenschaft
Lehrstuhl für Sonderpädagogik und Inklusion
Ernst-Lohmeyer-Platz 3, Raum 2.28
17487 Greifswald
Tel.: +49 (0)3834-4203708
kathrin.mahlauuni-greifswaldde
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Studentische Hilfskräfte
Mirka Kalisch
Ehemalige Mitarbeiter
Brian Carlsson
Dr. Mirjam Reiß